Oft zitiert, leider oft nicht kapiert. Was steckt hinter der Vorschrift mit dem einen Meter Leiterüberstand?
Man hört es quasi bei jeder Ausbildung, wenn FwDV 10 auf dem Dienstplan steht und die Vornahme tragbarer Leitern geübt wird. Spätestens wenn die Leiter am Gebäude steht, wird der Leiterüberstand diskutiert. Peinlich genau wird darauf geachtet, dass die Leiter mindestens den oft zitierten einen Meter oder alternativ drei Sprossen über die Fenster- oder Dachkante hinausragt. Ist das nicht der Fall, so hört man oft dogmatisch, dürfe die Leiter so gar nicht oder wenn nur zur Menschrettung genutzt werden. Doch woher stammt diese Aussage?
In der FwDV 10 (Ausgabe 1996) wird im Anhang die UVV Feuerwehren zitiert: „Versicherte dürfen Anlegeleitern nur so anlegen, daß diese mindestens 1m über die Austrittstelle hinausragen, wenn nicht andere gleichwertige Möglichkeiten zum Festhalten vorhanden sind.“
Die FwDV 10 oder richtiger die UVV Feuerwehren ist also Ursprung dieser Vorschrift. Der zweite Teil dieser Vorgabe scheint aber oft ignoriert oder vergessen zu werden, denn bauseits vorhandene Festhaltemöglichkeiten können den Leiterüberstand ersetzen. Um ein sicheres Übersteigen zu gewährleisten, muss eine Möglichkeit zum Festhalten vorhanden sein. Beim Übersteigen in eine Wohnung über ein geöffnetes Fenster kann sich die Einsatzkraft problemlos rechts und links an der Fensterlaibung festhalten. Der Sprossenüberstand ist in diesem Fall also gar nicht erforderlich. Ganz im Gegenteil: Wird die Leiter so angelegt, dass sie über die Fensterkante noch 1m hinausragt, versperrt sie oft die gesamte Fensteröffnung. Ein Einsteigen in das Fenster wird so deutlich erschwert, da sich die Einsatzkraft an der überstehenden Leiter vorbei durch die Fensteröffnung zwängen muss. Insbesondere mit Pressluftatmer ist dies bei den in Wohngebäuden üblichen Fenstern oft gar nicht möglich. Lässt es sich aufgrund er Länge der Leiter nicht vermeiden, dass sie über die Fensterkante hinausragt, sollte überlegt werden, ob die Leiter neben der Fensteröffnung positioniert werden kann. So bleibt die gesamte Fensteröffnung frei und die Einsatzkraft kann so bequem in die Wohnung einsteigen.
Beim Übersteigen über ein Geländer oder eine Brüstung, zum Beispiel beim Betreten eines Balkons, kann sich die Einsatzkraft an dem Geländer festhalten. Auch wenn hier der Leiterüberstand nicht störend ist, ist er auch hier nicht nötig, denn das Geländer ist in der Regel als Festhaltemöglichkeit ausreichend.
Nur für den Fall, dass man über die Leiter ein Flachdach, eine höhergelegene Ebene oder Ähnliches betreten möchte, an dem keine Haltepunkte zum Übersteigen vorhanden sind, ist der besagte Leiterüberstand erforderlich. Die Einsatzkraft kann sich beim Übersteigen an dem Leiterkopf festhalten und das Dach so sicher betreten.
In der neuen, im November 2019 veröffentlichten FwDV 10 wird diese Regelung nochmal etwas deutlicher abgefasst: „Anlegeleitern sollen mindestens 1m über die Austrittsstelle hinausragen (mindestens drei Sprossen). Sind andere gleichwertige Möglichkeiten zum Festhalten vorhanden (z. B. Geländerholme, Fensterlaibungen), ist es ausreichend, wenn Leitern bis zur Höhe des Überstiegs reichen.“ Diese Passage macht deutlich, dass der oben zitierte Überstand von einem Meter oder den drei Sprossen in den meisten Fällen gar nicht erforderlich ist.
Der erforderliche Leiterüberstand ist bei genauer Betrachtung nichts weiter als eine Mär, die oft gebetsartig vorgetragen wird. Entscheidend für den sicheren Einsatz von Leitern ist eine Haltemöglichkeit beim Übersteigen. In den meisten Fällen ist diese in Form einer Fensterlaibung oder eines Geländers vorhanden. Gibt es bauseitig keine Haltemöglichkeit, so dient in diesem Fall die Leiter als Ersatz einer solchen. Und nur in diesem Fall ist der Überstand von einem Meter durch die FwDV 10 gefordert.